Der Weise und die Illusion

Gehört und aus dem Gedächtnis erzählt.

Narada Muni, überall als Sadhu - als Heiliger - verehrt, besuchte auf einer seiner vielen Reisen durch die Welten Sri Krishna. Den Weisen, der dafür bekannt war, auf alles eine Antwort zu wissen, plagte eine Frage: Die Frage nach dem Wesen der Maya - der großen Illusion oder Täuschung.

Sri Krishna bemerkte die Unruhe Seines Bhaktas und fragte nach der Ursache.
«Oh, überall hört man von Deiner mächtigen Maya. Aber ich kann mir einfach kein Bild von ihr machen. Kannst Du mir ihr Wesen nicht deutlicher beschreiben?» fragte Narada.
«Ja, natürlich lieber Narada,» erwiderte Sri Krishna. «Aber ich verspüre Durst. Nimm bitte diesen Beutel und hole mir von dem frischen Wasser der Quelle, die gleich hinter dem Hügel dort liegt. Ich werde hier auf dich warten, um dir dann deine Frage zu beantworten.»

Eifrig machte sich Narada Muni auf den Weg. Wie er zur Quelle kam und sich zum Wasser niederbeugte, sah er plötzlich ein wunderschönes Mädchen auftauchen. Voller Scheu und Anmut füllte sie auf der anderen Seite der Quelle ihren Tonkrug mit Wasser und entschwand dann wieder seinem Blick. Bezaubert vom wunderbaren Anblick des Mädchens, vergaß Narada Muni den Grund, weshalb er hergekommen war, und folgte dem Mädchen nach. Von weitem sah er, wie sie eine Hütte betrat. Alles andere vergessend und einzig von dem Gedanken erfüllt, seine Zukunft mit diesem Mädchen zu verbringen, klopfte er an die Tür. Ein alter Mann öffnete ihm und fragte nach seinem Begehren. Narada Muni stellte sich als Brahmanen vor, der vom Anblick des reinen Mädchens so bezaubert war, dass er sie gerne heiraten und eine Familie mit ihr gründen möchte. Der Vater war sehr angetan von der freundlichen und hellen Ausstrahlung des jungen Mannes, der vor ihm stand und auch das Mädchen stimmte einer Verbindung mit dem edlen Brahmanen zu.

So heirateten die beiden und schon bald wurden ihnen Tochter und Sohn geboren. Narada hatte in der Zwischenzeit völlig vergessen, wer er war, und wähnte sich nunmehr als stolzer und glücklicher Familienvater und Ehemann, der treusorgend all seinen Pflichten nachkam. So vergingen einige Jahre bis zu dem Tag, als ein grosses Unwetter über das Land hereinbrach. Die Flüsse traten überall über die Ufer und auch das Dorf der jungen Familie wurde überflutet, und zwang alle zu einer raschen Flucht. Schnell packten die Eheleute die wichtigsten Sachen in einige Tuchbündel und nahmen dann je eines ihrer Kinder an der Hand. Inzwischen war die Flut schon so hoch gestiegen, dass es ihnen bis über beide Hüften stieg, und sie sich durch die tosenden Fluten kämpfen mussten.

In einem Augenblick der Unaufmerksamkeit, verlor die Mutter die Hand ihres Kindes, und die gewaltige Kraft des Wasser riss das schreiende Kind augenblicklich mit sich fort. Wehklagend stürzte die Mutter ihrem Kind nach und auch Narada versuchte seiner wieder habhaft zu werden. Doch in diesem Bemühen entglitt ihm die Hand des Kindes, das er selbst geführt hatte. Verzweifelt drehte er sich um, ließ alle Packen fallen und tauchte dem entschwundenen Kind nach. Aber er konnte es nicht mehr erreichen. Er weinte und schrie und als er sich umdrehte, sah er auch noch seine Frau in den Fluten versinken. Überwältigt vom Verlust seiner geliebten Familie und allem, was ihm lieb gewesen war, schrie und weinte er seinen Schmerz hinaus.

Da vernahm er plötzlich von weither eine Stimme, die seinen Namen rief: «Narada! Narada!» Wie aus einem Traum erwachend, blickte sich Narada Muni um, und sah sich mit seinem Beutel am Fusse der Quelle sitzend. Er sah sich nach dem Ufer um, und erblickt Shri Krishna, der sich ihm näherte. Und Shri Krishna sagte zu ihm: «Narada, wo bist Du geblieben. Ich warte schon seit einer Viertelstunde auf das Wasser, das Du mir bringen wolltest!»

Da wusste Narada Muni, von welcher Macht die Maya war.