Der Tempel Gottes

gehört und weitererzählt

Unbeschwert und als Freunde verlebten drei Knaben gemeinsam ihre heitere Kindheit. Zwei von ihnen stammten aus sehr reichen Familien, während der dritte so arm war, dass er nur gerade sein blaues Lendentuch besaß.

Die drei Freunde besuchten gemeinsam einen sehr alten und weisen Guru, der sie unterwies und ihnen immer wieder von der Macht und Herrlichkeit Gottes erzählte. Bei ihm verbrachten sie manche Stunde und seine Worte und Lehren prägten sich ihnen ein.

Als sie fern ihres Unterrichts wieder einmal in trautem Beisammensein an einer von Bambus umwachsenen Quelle ruhten, erzählten sie einander ihre Pläne und Träume für die Zukunft. “Ich werde einen Tempel erbauen lassen” sann der älteste der Knaben, “in dem Tausende von Pilgern Raum finden sollen.”

“Auch ich möchte einen solchen Andachtsort gründen”, entgegnete der zweite. “Mein Tempel soll aber so herrlich sein, dass aus aller Welt Menschen herbeiströmen, um ihn zu sehen.”

Der dritte und jüngste Knabe schwieg. “Was möchtest du tun, um Gott zu ehren?”, fragten sie ihn schließlich.

“Ich bin zu arm, um Ihm eine Wohnstätte zu errichten”, erwiderte er, “Ich kann nichts anderes tun, als Ihm dienen.”

Die Zeit verrann und das Leben rief sie bald und stellte jeden an den Platz, an dem er seiner Seelenreife nach gehörte. Die Erlebnisse und Erfahrungen brausten über die drei Männer hinweg. In jedem entwickelte sich das, was in ihm schlummerte. Nach fünfzig Jahren, als ihre Ruhezeit begann, erinnerten sie sich ihrer sorglosen Kindertage, die sie gemeinsam verbracht hatten. So trachteten sie danach, erneut zusammenzufinden. Eines Tages, im Sinken der Sonne, standen sie alle drei vor dem Tempel des Ältesten.

“Ich habe mein Versprechen gehalten”, sagte dieser stolz, und er beobachtete die vielen Menschen, die hinein und heraus strömten.

Seine Gefährten aus alten Tagen musterten ihn verstohlen. Seine Züge waren verwittert und Unrast hatte ihm ihr Merkmal aufgeprägt. In seinem Blick lag noch ein schwaches Flackern von Leidenschaften, die immer noch in ihm glimmten.

“An den Steinen deines Tempels sehe ich Tränen, Seufzer und Blut kleben...”, sprach der Jüngste und seine Stimme zitterte leicht.

“Grosse Dinge lassen sich nicht aus leerem Staub errichten”, verteidigte sich der Älteste und musterte das mächtige Bauwerk. Doch diesmal sah er nur Risse, Schatten und Flecke und erkannte plötzlich, dass er nicht Gott, sondern sich selbst ein Denkmal gesetzt hatte.

“Lass uns deine Andachtsstätte aufsuchen”, bat der Jüngste den Zweiten.

Sie stiegen langsam bergan und der Mittlere berichtete mit frohen Gebärden von all den Genüssen, deren er in seinem langen Leben teilhaftig geworden war. Er schwieg erst, als sie vor der marmornen Pracht standen, die das Mondlicht in Silber tauchte. Eine zarte, herrlich gearbeitete Säule reihte sich an die andere, und im davorliegenden See spiegelte sich das Kunstwerk noch schöner.

“Gleicht es nicht dem Traum einer Göttin?” fragte er die anderen.

Der Jüngste, der auch jetzt nichts als sein Lendentuch besaß, entgegnete kopfschüttelnd: “Es ist wie eine Schmuck Tragende, die unsere Sinne fesselt, selbst aber weder Herz noch Seele besitzt.”

Mit Schrecken wurde dem Zweiten gewahr, dass er nicht Gott geehrt, sondern ein müssiges Blendwerk (v)errichtet hatte, das die Menschen verwirrt, ohne sie dem Ewigen näher zu bringen.

Sie ließen sich am Wegrand nieder und wie aus einem Munde fragen die beiden wohlhabenden Männer:

“Und du?!”

Da lächelte der Jüngste und schaute auf den Staub zu seinen Füssen nieder. “Ich diene nur”, sagte er nachdenklich. “Gott war in mir, wenn die Schleier des Morgens rosig die Fluren überhauchten, und Er blieb in mir, wenn die ewigen Sterne mir von Seiner nie endenden Größe sprachen. Jede Tat geschah mit seinem Namen im Herzen, all mein Trachten war auf Ihn gerichtet, und ich lauschte nur seiner stillen Stimme in mir. Jeder Atemzug war ein Gruß an Ihn, der Gedanke eine Opferung - denn was sonst konnte ich Ihm bieten, der alles besaß?
Weil ich jedoch den Mantel Seiner Gegenwart um mich fühlte, vermochte ich manchem zu helfen und ihn vor Irrtümern zu warnen. Dadurch gelang es mir, die Bürde des Leides anderer zuzeiten ein wenig zu erleichtern.”

Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte der Älteste in reuevoller Erkenntnis:

“Wir errichteten Gott prunkvolle Tempel aus Stein, Ihm nur von unserem Überfluss opfernd - du aber wurdest allmählich selbst zu Seinem Tempel und nur in dem suchte Er Aufenthalt.”

Scheu schauten die beiden Greise zu dem Manne auf, der nichts besaß, dessen reine Züge aber den Schimmer der Verklärung trugen, und sie erkannten, dass die Errungenschaften ihres Lebens weniger bedeuteten als der Staub, mit dem ein vorbeiwehender Wind spielte ...