Glück oder Unglück

Nach einem Text von Gerhard Schöne.

Es lebte einst ein Bauer bescheiden mit seiner Familie und einem einzigen Pferd auf seinem Hof. Täglich ging er seiner Arbeit nach und ließ sein Pferdchen auf der Weide, wenn er es nicht brauchte. Da kehrte es eines Abends nicht mehr zum Stall zurück und die Nachbarn kamen zu ihm und klagten: "Ach du Armer, was für ein Unglück, dass dir dein Pferd davongelaufen ist." Doch gelassen gab das Bäuerchen zurück: "Glück oder Unglück, wer kann das sagen? Wartet ab, bis Morgen ist. Dann weiß ich mehr."

Früh am nächsten Morgen trabte sein Pferd ihn den Hof zurück und brachte sogar noch ein Wildpferd mit sich. Als die Nachbarn das sahen, kamen sie angelaufen und freuten sich: "Welch ein Glück für dich, dass du dein Pferd wiedergefunden hast". Der Bauer entgegnete gleichmütig: "Glück oder Unglück, wer kann das sagen? Wartet ab, bis Morgen ist. Dann weiß ich mehr."
Am nächsten Tag unternahm der Sohn des Bauern mit dem Wildpferd einen Ritt. Da stolperte das Pferd und der Junge verlor den Halt, fiel herunter und brach sich das Bein. Mitleidig sprachen die Nachbarn zum Bauern: "Was für Unglück du doch hast. Nun hat sich dein Junge auch noch das Bein gebrochen." Der Bauer aber sagt für sich: "Glück oder Unglück, wer kann das sagen? Wartet ab, bis Morgen ist. Dann weiß ich mehr."
Ein Krieg brach tags darauf im Lande aus und überall wurden die jungen Burschen in das Kriegsheer eingezogen. Auch ins Dorf kamen die Soldaten und nahmen alle Männer mit. Nur der Bauernsohn mit seinem gebrochenen Bein, den ließen sie zurück. Und unbeirrt scharten sich die Nachbarn um den Bauern und sagten zu ihm: "So ein Glück, ja, so ein Glück!" Das Bäuerchen aber sann bei sich: "Glück oder Unglück, wer kann das sagen? Wartet ab, bis Morgen ist. Dann weiß ich mehr."