Die Prostituierte und der Brahmana

Gehört und aus dem Gedächtnis erzählt.

In einem Dorf in Indien lebte in einem der vielen Tempel ein Brahmane. Streng lebte er den Regeln und Regulierungen seines asketischen Standes nach und übte sich in Meditation. Doch oft plagte ihn ein tiefer Groll, der ihn nicht zur Ruhe kommen lassen wollte. Gegenüber dem Tempel befand sich das Haus einer schönen jungen Prostituierten und so sah er Tag für Tag Menschen auf der Suche nach ein wenig Sinnenfreude bei der Prostituierten aus und eingehen. Zwar beglückwünschte er sich selbst zu seinem edlen Charakter, der frei von solch niedrigen Trieben schien. Gleichzeitig ärgerte er sich über die Prostituierte und ihre Freier, deren ausgelassenes Lachen und freizügigen Gesten oft noch lange in seinen Gedanken nachhallten.

Das Schicksal wollte es, dass die Todesstunde für den Brahmanen und die Prostituierte fast zur selben Zeit schlug. Als der Brahmane das Tor zu Gottes Reich fast erreicht hatte, sah er voller Entsetzen, wie die Prostituierte von den Torwächtern eingelassen wurde und seinem Blick entschwand. So schnell er konnte, eilte er ihr nach und wollte an den Torwächtern vorbei, um sie doch noch aufzuhalten und den vermeintlichen Fehler zu korrigieren. Doch da wurde er sehr bestimmt von den beiden Torwächtern angehalten.

“Halt, mein lieber Brahmane,” sagte der eine, “du darfst hier nicht eintreten.”
“Wie bitte?” empörte sich der Brahmane. “Was seid ihr denn für seltsame Torwächter? Jemanden, der sein ganzes Leben nur damit verbracht hat, seine Sinne zu befriedigen und der nie im Feuer der Askese nach einem frommen Leben trachtete, heißt ihr willkommen. Aber einem frommen und aufrechten Brahmanen wie mir, der sein Leben mit Meditation und Askese verbracht hat, wollt ihr den Zutritt in Gottes Reich verwehren? Erklärt mir bitte, was euch zu diesem Verhalten treibt.”

Da antworteten die Torwächter: “Oh, das ist schon alles rechtens, lieber Brahmane. Wie du richtig sagst, hast du einen großen Teil deines Lebens asketischen Übungen und Meditationen gewidmet. Aber mit deinen Gedanken und mit deinem Herzen warst du dabei oft an einem ganz anderen Ort. Du dachtest bei deinen Übungen oft an die Prostituierte und ihr Tun, haderste wegen ihrem Treiben und hängtest dein Herz an diese Gedanken des Grolls.
Die Prostituierte jedoch sah dich oft vor deinem Tempel stehen. Sie bedauert ihr Geschick, das sie dazu drängte, ihren Lebensunterhalt in der ihr vertrauten Weise zu verdienen. Oft, wenn sie mit ihren Freiern zusammen war, weilten ihre Gedanken bei dir und dem Dienst zu Gott und in ihrem Herzen brannte eine starke Sehnsucht, auch einmal ihr Leben in Meditation und Hingabe dem Herrn hingeben zu können.
In dieser Weise war sie in ihrem Leben viel öfters in liebevolle und sehnsüchtige Gedanken nach dem Dienst für den Herrn vertieft als du.

Und deshalb ist es ganz natürlich und richtig, dass die Sehnsucht eurer Herzen zum Ort eurer Bestimmung wird.”