Gute Gründe

Indische Geschichte

Im Indien der vergangenen Tage lebte einst ein König inmitten seiner Ländereien und umgeben von seinem Hofstatt. Wie es sich für die damaligen Könige geziemte, die ihren Mut und ihre Entschlossenheit immer wieder von neuem erproben mussten, begab er sich von Zeit zu Zeit zur Jagd in den unwegsamen Dschungel. Bei solchen Ereignissen kam es immer wieder vor, dass der Jäger zum  Gejagten wurde  - ja, zuweilen sogar den Tod fand. Ähnliches widerfuhr dem König.
Als er sich mit seinem Schwert eine Bresche durch die Lianen schlug, wollte es das Schicksal, dass er sich in einem Moment der  Unaufmerksamkeit seinen Daumen abschnitt und so gezwungen wurde, in den  Palast zurückzukehren. Schmerzerfüllt und zornig über das Ungemach, das ihm widerfahren war, behandelte er seine Beigesellten und Dienern mit  grosser Verdrossenheit. Unter seinen Dienern befand sich auch ein Gesellschafter, der ihm wegen seiner Aufrichtigkeit besonders lieb war und mit dem er manch  erquickliches Gespräch geführt hatte. Als der König wiedereinmal murrend den Hofstatt herumscheuchte und fragte, weshalb das Schicksal gerade mit ihm so ungerecht verfahre, antwortete ihm sein lieber Diener frei  heraus: “Herr, so schmerzlich und schwer das  Schicksal uns oft erscheint, so weiß ich doch, dass es nichts  Schlechtes gibt, das nicht aus einem guten Grund heraus passiert.”
 
Diese Worte erzürnten den geplagten König vollends. Ungehalten über die vermeintliche Mitleidslosigkeit und Rohheit seines Dieners ließ er ihn sofort in den Kerker werfen und stellte ihm in Aussicht, ihm würde am nächsten Tag der Kopf abgeschlagen werden. Doch die Wut des Königs war damit noch nicht verraucht und er ließ sein Pferd satteln und ritt in wildem Galopp zum Palast hinaus. Er ritt so lange, bis der Schweiß seinem Pferd in Flocken vom Fell fiel. Auch der König war beim wilden Ritt ermattet. Als er zu einem großen Baum kam, der ihm und seinem Pferd genügend Schatten spendete, stieg er ab und legte sich hin, um sich auszuruhen.
Er schlief alsbald ein und bemerkte nicht, wie eine Gruppe Kali-Verehrer des Weges kam, die dem grausigen Kult des Menschenopfers huldigten. Sie waren auf der Suche nach einem geeigneten Menschen, den sie am nächsten Tag als Blutopfer darbringen konnten. Als sie den Edelmann schutzlos und schlafend unter dem Baum vorfanden, hielten sie dies sogleich für eine gute Wendung des Schicksals. Ehe der König sich versah, hatten sie ihn schon gepackt und ihm die Arme festgebunden. Freudig johlend zerrten sie den Unglücklichen fort in ihr Verlies. Während der ganzen Nacht suchte der König verzweifelt nach einem Ausweg  und schwitzte Blut und Wasser als er an den bevorstehenden Tag dachte. Als der Morgen graute, betrat der Opferpriester das Verlies, um den Menschen für die Opferung vorzubereiten. Da entdeckte er, dass dem König an seiner linken Hand ein Finger fehlte. Empört darüber, dass Kali ein beschädigtes Opfer dargebracht werden sollte, ließ er den vermeintlichen Edelmann mit Schimpf davonjagen.
Der König aber eilte so rasch er konnte zu seinem Palast zurück und  öffnete mit eigener Hand die Kerkertür seines lieben Dieners. "Mein lieber Freund. Du hattest ja so recht. Hätte mir nicht der Daumen gefehlt, wäre ich jetzt tot, dahingemeuchelt auf dem Opfertisch der schrecklichen Barbaren. Ich habe dich zu Unrecht einkerkern lassen,  bitte verzeih mir."
"Oh König, sei ohne Sorge. Es hatte alles  seinen guten Grund. Hättest du mich nicht einkerkern lassen, würde ich dich bei deinem Ausritt begleitet haben. Meine Glieder aber sind vollzählig, und es hätte für mich keine Rettung vor dem Opfertod  gegeben! So aber war mir lediglich eine Nacht in deinem Kerker beschieden."