Der vergrabene Schatz

Chaitanya-Charitamrita, Madhya-lila, Kap. 20

Der gelehrte Astrologe Sarvajnana besuchte einmal das Haus eines armen Mannes, der ihn darum bat, ihm etwas über seine Zukunft zu sagen. Als Sarvajnana das Horoskop des Mannes und dessen Bekümmertheit sah, war er sehr erstaunt und sprach zu ihm: “Weshalb bist du unglücklich? Dein Vater war sehr reich und hat dir einen versteckten Schatz hinterlassen. Ich kann sehen, dass dein Vater dir von diesem Reichtum nichts mehr mitteilen konnte, weil er an einem fernen Ort verstarb. Doch nun, wo du von diesem Schatz weißt, kannst du ihn suchen und bergen.”

Der arme Mann horchte auf, doch er konnte mit diesem Wissen allein den Schatz noch nicht bergen. Der Astrologe musste ihm zuerst erklären, wo und auf welche Weise der Schatz tatsächlich zu finden war. Der Astrologe zeigt ihm die Stelle, wo der Schatz verborgen war, doch gab er ihm gleichzeitig folgende Unterweisungen mit auf den Weg:

“Hör gut zu: Der Schatz befindet sich an dieser Stelle. Wenn du aber auf der Südseite zu graben beginnst, werden Wespen und Drohnen auffliegen, sich auf dich stürzen und dich stechen. So wirst du deinen Schatz nicht bekommen können.

Beginnst du aber auf der Westseite zu graben, triffst du dort auf ein Gespenst, das dich dermaßen erschrecken und beunruhigen wird, dass deine Hände den Schatz nicht einmal berühren werden.

Wenn du auf der Nordseite gräbst, begegnest du dort einer großen schwarzen Schlange. Sie wird einen jeden verschlingen, der versucht, den Schatz auszugraben.

Gräbst du jedoch die Erde auf der Ostseite ein wenig auf, wirst du sogleich den Topf mit dem Schatz in den Händen halten.”

Diese Geschichte erzählt und erklärt Chaitanya Mahaprabhu seinem Schüler Sanatana Goswami:
Die Lebewesen sind arm, denn sie haben vergessen, dass sie in Wirklichkeit Söhne und Töchter des Reichsten (Gottes) sind. Sie wissen deshalb auch nichts von dem verborgenen Schatz, dem Schatz der Liebe zu Gott. Doch weil sie leiden, suchen sie nach jemandem, der ihnen weiterhelfen kann und treffen auf die verschiedenen Wege, die sie zum Glück führen sollen.

Die Südseite repräsentiert den Vorgang der rituellen Verehrungen und Opferungen (karma-kanda), der zu zeitweiligem materiellen Gewinn führen kann. Die vielfältigen Wünsche und Verlangen des Lebewesens werden mit den Stichen von Wespen und Drohnen verglichen, unter deren Folgen das Lebewesen Geburt für Geburt in immer neuen Verkörperungen zu leben und zu leiden hat.

Die Westseite repräsentiert den Vorgang der gedanklichen Mutmaßungen und der Wortspielereien (jnana-kanda, manchmal auch siddhi-kanda genannt). Es wird hier auf den Geist des Spekulierens hingewiesen, der boshaft den versteckten Schatz bewacht. Ein Geist (yakasa), der die Reichtümer bewacht, lässt es nicht zu, dass sich jemand anderes diese Reichtümer aneignet. Statt dessen wird er Angst und Schrecken verbreiten und den Suchenden in Verwirrung stürzen.

Die Nordseite repräsentiert die verschiedenen Meditationspraktiken und mystischen yoga-Vorgänge, die das Verschmelzen mit dem Absoluten zum Ziel haben, und damit auch das Auslöschen der eigenen Persönlichkeit. Doch wenn das Lebewesen aufgrund der im wesenseigenen Persönlichkeit selbst in dieser Verschmelzung keine Ruhe findet, ist es gezwungen, zurückzukehren und büßt sein Dasein in der Welt der Transzendenz ein. Deshalb wird der Wunsch nach Verschmelzung oft mit dem Ausdruck "von der schwarzen Schlange verschlungen werden" umschrieben.

Die Ostseite repräsentiert die liebevolle Hingabe (bhakti-yoga). Wer diesen verborgenen Schatz der Liebe zu Gott und allen anderen findet, gewinnt einen Reichtum, der ihn auf ewig völlig erfüllt.